Sehr geehrte/r [...],
ich möchte auf Ihr Schreiben zu Hartz IV zurückkommen.
In der Sache selbst muss man einige Fakten von der politischen Bewertung und „Botschaft“ unterscheiden. Die Äußerungen von Jens Spahn waren ihrerseits eine Reaktion auf die Kritik an der Essener Tafel, die zuvor die Ausgabe an Flüchtlinge/Ausländer zugunsten deutscher Rentner eingeschränkt hatte. Daraus war eine Diskussion entstanden, in der Tafeln zum Teil mit Armenküchen gleichgesetzt und vertreten wurde, dass Menschen ohne dieses Angebot nicht genügend zu Essen hätten. Das Arbeitslosengeld II, gemeinhin Hartz IV genannt, ist ein sehr geringer Betrag, von dem vieles nicht bestritten werden kann, Hunger leiden ist allerdings sicher nicht notwendig. Der Bedarf, so hat es auch Jens Spahn richtig gesagt, wird regelmäßig angepasst. Derzeit liegt der Regelsatz für Alleinstehende bei 416 Euro für ein Ehepaar mit zwei Kindern (4 und 12 Jahre) 1284. Euro, zusätzlich zu den Miet- und Heizkosten einer „angemessenen Wohnung“, die von der Solidargemeinschaft aufgebracht werden. Insoweit war eine Reaktion, die teilweise verfälschenden Übertreibungen entgegentritt, durchaus angezeigt.
Klar ist aber auch: Wenn das verfügbare Haushaltseinkommens auf ALG II Niveau ist, ist das Geld - vor allem mit Kindern - sehr knapp. Wie schwierig das Haushalten dann sein kann, wie schwer es fallen kann, gerade den Kindern immer wieder Wünsche abzuschlagen, können sich alle, die davon nicht selbst betroffen sind, nicht wirklich vorstellen. Gerade vor diesem Hintergrund kann ich verstehen, dass die Äußerung von Jens Spahn als hart und verletzend wahrgenommen wurde; dies steht ihm und uns als Politikern nicht zu.
Und ohne Zweifel sind Tafeln in jedem Fall sinnvoll und notwendig, weil sie Lebensmittel, die sonst evtl. verderben würden, denen zukommen lassen, die zwar nicht hungern, aber bedürftig sind und sich auf diese Weise zumindest etwas mehr leisten können, als sonst möglich wäre.
Mir ist als Mitglied der CDA/Sozialausschüsse in meiner Partei wichtig, dass wir uns in der neuen Koalition zusammen mit der SPD einiges vorgenommen haben, um den Menschen aus dem Bezug von ALG II herauszuhelfen. Gezielte Maßnahmen gegen Langzeitarbeitslosigkeit oder zur Unterstützung von Familien (z.B. Verbesserungen beim Familienzuschlag) und für mehr Bildung sollen hier helfen (und gehen keineswegs bloß auf das Konto der SPD!). Ich bin gespannt, was auch die neue Familienministerin Franziska Giffey dazu einbringen wird, der ich (auch über Parteigrenzen hinweg) aufgrund ihrer Erfahrung als Bürgermeisterin von Berlin-Neukölln einige Erfahrung und den Blick für das Notwendige zur Bekämpfung von Armut, insbesondere Kinderarmut zutraue.
Ein Problem der politischen Diskussion ist aber auch, dass die Diskussion über Armut und Sozialleistungen in Deutschland komplex und manchmal missverständlich ist: wenn etwa unterschiedliche Armutsbegriffe verwendet werden, wenn eine Erhöhung von Sozialleistungen in der Statistik zu einer scheinbaren Zunahme von Armut führt, wenn zielgenau helfende Sachleistungen (z.B. subventionierter KiTa-Platz oder Mittagessen in der Schule) in der statistischen Bewertung von Einkommen oder Armut nicht berücksichtigt werden oder die ebenfalls plausible Forderung erhoben wird, dass es einen spürbaren Mehrverdienst für denjenigen geben muss, der einer Erwerbsarbeit nachgehen, sind die Zusammenhänge in der Sache schwierig und noch schwieriger darzustellen. Der frühere Generalsekretär des Deutschen Caritasverbandes hat dies in seinem Buch Armut in Deutschland nachvollziehbar dargestellt und weiterführende Vorschläge gemacht. [...]
Freundliche Grüße
Ihre
Elisabeth Winkelmeier-Becker