Sehr geehrte(r)...
vielen Dank für Ihren Brief. Die Argumente, mit denen Sie die Einführung des dritten Rentenpunktes für die Mütter der bis 1991 geborenen Kinder verlangen, sind richtig und gewichtig. Die Mütterrente wurde 1991 für Geburten ab Jahrgang 1992 eingeführt; damit sollte endlich im Generationenvertrag, der der gesetzlichen Rentenversicherung zugrunde liegt, die Erziehungsleistung der Eltern (zumeist Mütter) anerkannt werden, weil es eben nicht nur die Einzahlungen sind, die das System aufrecht erhalten, sondern auch die Erziehung von Kindern, ohne die es keine künftigen Beitragszahler geben würde.
Nachdem nicht wenige Frauen meiner Generation und jünger (und die dazugehörigen Männer!) bewusst auf Kinder verzichten, sich die Grundannahme Adenauers zum Funktionieren des Rentensystem im Umlageverfahren "Kinder kriegen die Leute immer" zunehmend als falsch herausstellte, sollten diejenigen, die diese auch gesellschaftlich wichtige Aufgabe weiterhin übernehmen, in der Rente einen gewissen Ausgleich und Anreiz erhalten.
Es waren genau die von Ihnen genannten Gründe, weshalb auch die rückwirkende Anrechnung von zumindest einem Rentenpunkt gesetzlich geregelt wurde, obwohl eine rückwirkende Anreizwirkung dadurch naturgemäß nicht mehr möglich war. Es sollte damit vor allem eine Wertschätzung der unbezahlten Arbeit der Mütter zum Ausdruck gebracht werden; zusätzlich sollte es die oft sehr kleinen Renten von Frauen und ihre Altersarmut lindern.
Ich habe damals bei meiner eigenen Mutter (mit fünf Kindern) erlebt, wie sehr sie sich über diese finanzielle Anerkennung gefreut hat. Auch wenn es letztlich nur keine dem wirklichen Wert entsprechende, eher symbolische Anerkennung war, hat sie das Geld auch sehr bewusst als "ihr" Geld nach eigenen Vorstellungen - d.h. zumeist zur Unterstützung für ihre Kinder und Enkelkinder - verwendet.
Es war dann wiederum die Union, die die Anerkennung des zweiten Rentenpunktes vor der Wahl 2013 versprochen und dann auch "geliefert" hat.Dieselben Gründe können nun für die Einführung des dritten Punktes vorgebracht werden. Aber es gibt auch einige Gegenargumente gegen den dritten Punkt: da sind vor allem die recht hohen Kosten, die zusätzlich von den heute jungen Leuten aufgebracht werden müssten, ob nun als Steuerzahler oder als Beitragszahler; sie beliefen sich für den zweiten Rentenpunkt auf ca. 7 Mrd. Euro pro Jahr.
Hier sagen viele, dass gezieltere Maßnahmen zur Bekämpfung der Altersarmut wichtiger wären, die Mütterrente aber ja auch solchen Haushalten zugutekäme, in denen die in früheren Zeiten übliche Aufgabenverteilung der Alleinverdiener-Ehe dem Mann eine gute und für beide Ehepartner grds. ausreichende Altersversorgung ermöglicht hat.
Zur Rechtfertigung der Unterschiede zwischen älteren und jüngeren Müttern wird außerdem darauf hingewiesen, dass die älteren Frauen noch durch vergleichsweise günstigere Regelungen zur Berechnung der Witwenrente geschützt waren, die sich noch am Leitbild der Alleinverdiener-Ehe orientierten. Bei jüngeren Jahrgängen steht nun die eigene Berufstätigkeit und eigenständige Alterssicherung im Vordergrund, so dass hier Ausfallzeiten wegen Kindererziehung auch eine andere, gravierendere Bedeutung zukommt, als bei früheren Jahrgängen.
Wenn nach der Entscheidung der Wähler die Union wieder eine maßgebliche Rolle in der Regierungsbildung spielen sollte, wird voraussichtlich die CSU den dritten Punkt als Forderung in die Koalitionsverhandlungen einbringen; ich selber könnte mir einen Kompromiss vorstellen, der Anrechnungsfreibeträge vorsieht für diejenigen Frauen, die Grundsicherung im Alter beziehen; das würde einen gezielten Beitrag gegen Altersarmut von Müttern bedeuten.
Sicher ist allerdings, dass die Anrechnung von Kindererziehungszeiten in der Rente immer ausschließlich das Projekt der Union war; keine andere Partei ist jemals auf die Idee gekommen, den unerlässlichen Beitrag der Mütter für die Rentenversicherung zu honorieren. Aus unserer Sicht ist und bleibt dies weiterhin ein wichtiger Aspekt der Gerechtigkeit und des Ausgleichs zwischen Eltern und Kinderlosen sowie zwischen (in der Regel) Männern und Frauen - und damit ein wichtiger Beitrag zur Wahlfreiheit.
Mit freundlichen Grüßen
Elisabeth Winkelmeier-Becker