Anfrage zum Thema: Volksabstimmungen auf Bundesebene

 

Sehr geehrter Herr…….,

vielen Dank für Ihre Frage zu Volksabstimmungen auf Bundesebene.

Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Wenn das Volk dies im Wege von Volksabstimmungen tun will, habe ich damit keine grundsätzlichen Probleme, sehe meine Aufgabe als Politikerin und Mitglied des Bundestages deshalb nicht geschmälert oder irgendwie in Frage gestellt.

Ich halte allerdings die Hoffnungen, die damit zuweilen verbunden werden, für überzogen und möchte Ihnen einige Aspekte aufzeigen, die man bei einer Regelung von Volksabstimmungen auf Bundesebene bedenken müsste:

Bedenken habe ich zum einen bei der Frage, ob Minderheiteninteressen angemessen Berücksichtigung fänden: Würde die zunehmende Zahl kinderloser Erwachsener die Leistung und die Interessen der Familien hinreichend würdigen, würde die zunehmende Zahl älterer Menschen den Jüngeren per Mehrheitsentscheidung nicht zu hohe Lasten aufbürden, würde die Mehrheit der Gesunden für teure Behandlungen weniger Kranker oder Behinderter die Kosten tragen wollen? Das sind Gefahren, die auch in der parlamentarischen Demokratie eine Rolle spielen, aber nicht in gleichem Maße an reinen Mehrheitsverhältnissen ausgerichtet werden. Sicherlich wäre auch die Gefahr übereilter, interessengeleiteter Entscheidungen größer. Hier ist das Modell der repräsentativen Demokratie meines Erachtens hilfreich, die Gemeinschaft vor emotionsgeleiteten Entscheidungen zu bewahren.

Ich halte es außerdem für fraglich, ob letztlich wirklich einzelne Bürger mehr Einfluss auf politische Entscheidungen nehmen oder ob nur die Bedeutung von Verbänden und Interessengruppen, die große Kampagnen organisieren können, wachsen würde. Die Bürger könnten angesichts der erforderlichen Quoren ihre Initiativen in aller Regel nicht allein vorantreiben, sondern wären auf die Unterstützung von Verbänden und Vereinigungen angewiesen. Hier besteht die Gefahr einer indirekten Bevormundung des Bürgers durch demokratisch nicht legitimierte Vereinigungen; es könnten Minderheiten großen Einfluss auf die Politik erhalten, ohne dafür dauerhaft in der Verantwortung zu stehen. Denken Sie z.B. an die Brexit-Kampagne, die behauptete, dass durch den EU-Austritt deutlich mehr Geld für die Gesundheitsversorgung zur Verfügung stünde; dies wurde schnell - allerdings nach der Abstimmung - als Irreführung entlarvt.

Manche recht komplexen Themen mit großer Tragweite brauchen auch sehr viel Detailkenntnis und würden sich nach meiner Auffassung nicht für Volksentscheide eignen, auch deshalb, weil die Bereitschaft in der breiten Bevölkerung zur detaillierten Befassung nicht vorausgesetzt werden kann. Gerade auf Bundesebene dürfte dies eine Hürde sein, eher noch als auf kommunaler oder Landesebene. Auch mir geht es manchmal so: etwas hört sich zunächst sehr überzeugend an: "Dafür muss doch alles getan werden, dafür müssen wir investieren!". Wenn es zuende gedacht wird, wenn die Finanzierung geregelt und Auswirkungen auf europarechtliche Vorgaben, auf außenpolitische Effekte oder auf die Pflichten und Rechte von Bundesländern und Kommunen bedacht werden müssen, sieht die Sache dann nicht selten anders aus. Es müsste hier von allen Seiten - von der Politik und von den Bürgern - viel Engagement investiert werden, eine solche Entscheidung auch mit Blick auf alle mittelbaren Konsequenzen vorzubereiten. Die Bereitschaft der Politik fordern Sie dazu zu Recht ein; daran dürfte es nicht scheitern! Ihre persönliche Bereitschaft dazu besteht sicher ebenso. Ich kenne aber auch viele Bürger, die sagen, dass sie mit den Details gesetzlicher Regelungen sich eher nicht befassen wollen - dazu hätten sie doch die Politiker gewählt, die das dann eben für die Gesellschaft zu leisten hätten und dann bei der nächsten Wahl die - positive oder negative - Quittung dafür bekommen. Klar ist auch, dass ein solches Verfahren nur wenige Projekte pro Jahr oder Legislaturperiode betreffen könnte, da ansonsten der Aufwand an Zeit und Geld zu hoch wäre, bis hin zur empfundenen Belästigung der Bürger durch einen gleichsam immerwährenden Wahlkampf mit ständigen Plakatkampagnen, Infoständen, Werbung etc..
 
Häufig spielt die Erwartung eine Rolle, dass eine Entscheidung der Bürger zu völlig anderen Ergebnissen führen würde, als die Entscheidung der Politik. Ich halte das für einen Irrtum. Fast immer werden die Fragen, die in der Politik kontrovers diskutiert werden, auch in der Bevölkerung unterschiedlich bewertet. Meinungsverschiedenheiten verlaufen meistens nicht zwischen der Politik einerseits und den Bürgern andererseits, sondern gehen durch die Bevölkerung hindurch und spiegeln sich in der Politik wider. Nur wenige Entscheidungen der Bundes – oder Landesgesetzgebung werden sich auf ein eindeutiges Ja oder Nein reduzieren lassen. Ich bin deshalb nicht optimistisch, dass häufigere Volksabstimmungen - jedenfalls in Bezug auf die Entscheidungen auf Bundesebene- den Effekt haben werden, das Interesse an Politik nachhaltig zu steigern und auch zu sachlich besseren Entscheidungen zu kommen

Unser System bietet den Mitbürgern viele Möglichkeiten der Mitgestaltung an. Sei es z.B. durch Mitarbeit in den politischen Parteien, Gremien, soziale Vereinigungen usw. Interessensgruppen und Einzelbürger haben z.B. die Möglichkeit, an die jeweils zuständigen Abgeordneten heranzutreten, auf bestimmte Anliegen bzw. Umstände aufmerksam zu machen und somit auf die Diskussion und auf die Gesetze Einfluss zu nehmen. Leider werden diese Möglichkeiten zu wenig genutzt. Nicht zuletzt hat auch jeder Bürger selbst die Möglichkeit, sich zur Wahl zu stellen und sich um ein Mandat auf kommunaler, auf Landes- oder Bundesebene zu bewerben.

Bislang gehöre ich aus den genannten Gründen eher zu den Skeptikern; eine konstruktive und ergebnisoffene Diskussion hierüber, die am besten auch die konkreten Themen einer Volksabstimmung benennen und dabei auf die oben dargelegten Bedenken eingehen müsste, sollte aber geführt werden.

Mit freundlichen Grüßen
Elisabeth Winkelmeier-Becker