Wir schließen eine seit Langem bestehende Rechtsschutzlücke

Mit dem Rechtsschutz für Betroffene von überlangen Gerichtsverfahren schließen wir eine Rechtsschutzlücke, die bereits seit Langem besteht und seit einigen Jahren Gegenstand der EGMR-Rechtsprechung ist. Auch während des Gesetzgebungsverfahrens, das wir heute voranbringen wollen, wurde und wird Deutschland vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wegen des hier mangelnden Rechtsschutzes verurteilt:

So hat der EGMR erst im vergangenen Mai in der Sache „Kuppinger gegen Deutschland“ die überlange Verfahrensdauer in einem Familiengerichtsverfahren gerügt. Angesichts der Beschleunigungsmaxime des § 155 des Gesetzes über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit, FamFG, ist dieser Sachverhalt tatsächlich erschreckend: Zu Beginn des Umgangsverfahrens vor dem Amtsgericht Frankfurt Main im Mai 2005 war das betroffene Kind eineinhalb Jahre alt. Das Verfahren war im Oktober 2010, als das Kind bereits im schulfähigen Alter war, noch nicht abgeschlossen.

Als Familienrichterin weiß ich aus eigener beruflicher Erfahrung, welche Bedeutung der zeitliche Aspekt gerade in Verfahren hat, in denen der Umgang mit dem eigenen Kind Streitgegenstand ist. Hier sollte es in den Instanzen eher um Monate als um Jahre gehen, steht doch das persönliche Näheverhältnis in der Eltern-Kind-Beziehung zur Disposition. Angesichts solcher Sachverhalte tritt die Rechtsschutzlücke ganz offen zu Tage. Selbst die klare Beschleunigungsregelung des FamFG vermochte hier nicht, effektiven Rechtsschutz herbeizuführen.

Am vergangenen Donnerstag wurde Deutschland in zwei weiteren Verfahren (Köster./.Deutschland und Otto./.Deutschland) wegen Verfahrensdauern, die ihren gerichtlichen Ausgangspunkt beide bereits 1989 hatten, verurteilt. Auch für den heutigen Tag und für Mitte Oktober sind weitere Entscheidungen des EGMR angekündigt, die sich mit unangemessenen Verfahrenslängen in der Bundesrepublik beschäftigen. Dementsprechend bin ich froh, dass wir dem zum 1. Januar 2012 ein Ende setzen werden.

Mit dem hier abschließend beratenen Gesetz fügen wir einen weiteren Baustein ins Gesamtgebilde des deutschen Staatshaftungsrechts. Dabei ist das Gesetz kein Schritt hin zu einer einheitlichen Kodifizierung dieses Rechtsgebiets. Wir verbessern lediglich punktuell den Rechtsschutz gegenüber staatlichem Handeln oder eben Nichthandeln. Eine umfassende Reform und damit eine Systematisierung der Vielzahl staatshaftungsrechtlicher Anspruchsgrundlagen steht auch nach Verabschiedung des Gesetzes weiter auf unserer Agenda.

Klar ist mit der Schaffung eines Rechtsmittels bei Überlänge eines gerichtlichen Verfahrens, dass künftig auch in Deutschland jedermann, der sich einer nicht mehr hinnehmbaren Verfahrenslänge ausgesetzt sieht, über Rechtsschutzmöglichkeiten verfügt.

Ich nutze diese Debatte aber auch gerne, um vorab nochmals festzustellen: Die deutsche Justiz arbeitet insgesamt schnell und auf hohem Qualitätsniveau. Eine knappe Personalausstattung, die in gewissem Maße zu einer längeren Verfahrensdauer beiträgt, hat die Justiz nicht zu verantworten. Vielmehr hat sie die große Aufgabe, im Rahmen der Haushaltsmittel ein bürgernahes und effektives Rechtsschutzsystem zu gewährleisten. Für den Betrag, der hier insgesamt zur Verfügung steht, zeichnet die Politik auf verschiedenen Ebenen verantwortlich, die hier eine Abwägung gegenüber anderen wichtigen politischen Zielsetzungen zu treffen hat, beispielsweise der Finanzierung von Bildung, Sozialleistungen oder Infrastruktur.

Deshalb kann es kein Anliegen sein, hier über die Angemessenheit hinaus besonders hohe Entschädigungs- bzw. gar vollumfängliche Schadenersatzansprüche zu schaffen. Bei der konkreten Bemessung der Entschädigungshöhe geraten wir in den Beratungen regelmäßig in einen Überbietungswettbewerb. Deshalb war der Antrag der Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen betreffend eine Entschädigung für Nichtvermögensnachteile in Höhe von 1 000 Euro pro Monat der Verzögerung nicht zielführend. Das Geld würde an anderer Stelle fehlen. Jedem muss doch in Zeiten der Schuldenbremse und des Abbaus der Staatsverschuldung klar sein, dass hohe Forderungen in einem Bereich zu Kürzungen in anderen Bereichen führen. Außerdem würde eine monatliche Bemessung den Eindruck erwecken, dass sich die unangemessene Dauer eines Gerichtsverfahrens in Monaten bemessen würde. Es geht hierbei aber immer um Zeitspannen, die in Jahren zu bemessen sind.

Ich denke, wir haben im parlamentarischen Verfahren einige wesentliche Verbesserungen zum Regierungsentwurf vorgenommen:

So passen wir die Rechtsfolgenseite des Entschädigungsanspruchs nach § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG an die Rechtsprechung des EGMR an, indem wir einen Anspruch auf angemessene Entschädigung vorsehen. Damit gehen wir bewusst von schadenersatzrechtlichen Erwägungen im Regierungsentwurf ab, die nicht zuletzt Ansprüche hinsichtlich entgangenen Gewinns umfasst hätten. Hiermit wären wir einerseits als Gesetzgeber weit über die Straßburger Vorgaben hinausgegangen. Andererseits hielte ich es nicht für vertretbar, die Landeshaushalte mit der Regelung eines staatshaftungsrechtlichen Teilbereichs einem solch erheblichen zusätzlichen Kostenrisiko auszusetzen.

Ferner befinden wir uns bei den nun normierten Ansprüchen im Bereich der verschuldensunabhängigen Haftung. Hier sehe ich für Ansprüche nach den §§ 249 ff. BGB keinen Raum. Im deutschen Staatshaftungsrecht hat sich ein ausgewogenes Verhältnis von Verschulden/Verschuldensunabhängigkeit einerseits und dem Anspruchsumfang andererseits ausgeprägt. Mit der angemessenen Entschädigung bei Nachteilen wegen überlanger Gerichtsverfahren entsprechen wir nun dieser Systematik.

Ferner sieht § 198 Abs. 3 und 4 GVG die Möglichkeit der Entschädigung immaterieller Nachteile „auf andere Weise“ vor, welche beispielsweise in der gerichtlichen Feststellung einer unangemessenen Verfahrensdauer liegen kann. An dieser Stelle wird deutlich, dass wir uns systematisch richtigerweise nicht im Bereich des Schadenersatzrechts, sondern vielmehr im Entschädigungsrecht befinden.

Mit der Vermutungsregelung hinsichtlich des Vorliegens eines immateriellen Nachteils bei bloßem Vorliegen einer Verfahrensüberlänge tragen wir den Beweis- und Darlegungsschwierigkeiten der Betroffenen in diesem Bereich Rechnung. Materielle Nachteile hingegen sind mit den allgemeinen Regeln, beispielsweise des Anscheinsbeweises oder der Berücksichtigung typischer Kausalverläufe, angemessen geregelt. Um hier aber letzte Sicherheit zu bekommen, werden wir die Erfahrungen bei der Geltendmachung materieller Nachteile evaluieren.

Ich muss zugeben, dass ich mir noch einige weitere Verbesserungen gewünscht hätte. So weiß ich um einigen Unmut aus den Regionen, die in einem OLG-Bezirk liegen, welcher nicht den Sitz der Landesregierung umfasst. Wie nun die Richterkollegen beispielsweise im OLG-Bezirk Karlsruhe der Beurteilung ihrer Verfahrenslängen durch das OLG Stuttgart gegenüberstehen, vermag ich nicht abschließend zu beurteilen. Hier hätte ich, hätte die Union keinen Anlass gesehen, auf der Ebene des Entschädigungsverfahrens den OLG-Bezirk zu verlassen. Wir werden beobachten, ob das Gesetz auch in diesem Punkt den eingespielten Abläufen in den Landesjustizverwaltungen nicht entgegensteht.

Auch wäre es meines Erachtens hilfreich gewesen, mit dem Tatbestandsmerkmal „überlange Dauer“ in § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG einen sprachlich deutlicheren Bezug zur EGMR-Rechtsprechung im Gesetz zu verankern. Es sollte nicht das Signal an die Rechtsanwender ausgesendet werden, dass bereits vergleichsweise geringe Verzögerungen zur sogenannten Rüge berechtigen. Dennoch besteht die Hoffnung, dass die Praxis aus der Gesetzesbegründung und nicht zuletzt aus den Plenarprotokollen entnimmt, dass die nun normierte „Unangemessenheit“ der Verfahrensdauer allein auf die „Ausreißer“ bezogen ist, die der EGMR in seiner Recht-sprechung zum Gegenstand macht. Die Verfahrenslängen liegen hier bei mehreren Jahren, die in den Instanzen nicht selten in den zweistelligen Bereich gehen, wie „Sürmeli gegen Deutschland“ aus 2006 mit Verfahrensbeginn 1982 oder die beiden eingangs genannten Fälle, die ihren Ausgang beide im Jahr 1989 hatten.

Aus all diesen Erwägungen werden wir schließlich evaluieren. Wir wollen genau beobachten, welche Erfahrungen die Rechtsuchenden und die Justizverwaltungen mit den Neuregelungen machen. Auch wenn ich fest davon ausgehe, dass der Entschädigungsanspruch für erlittene materielle Nachteile von den deutschen Gerichten nicht unterhalb des Maßstabs der bisherigen EGMR-Rechtsprechung angesetzt werden wird, wollen wir prüfen, ob den Belangen der Betroffenen mit den jeweils ausgeurteilten Entschädigungshöhen hinreichend Rechnung getragen wird. Gleiches gilt für die Anforderungen an den Nachweis eines kausalen Vermögensnachteils.

Die parlamentarischen Beratungen können sicherlich nicht alle Unwägbarkeiten in Bezug auf die künftige Handhabung des neuen Rechtsmittels auflösen. Wenn beispielsweise befürchtet wird, dass künftig ein rügebefangenes Verfahren vorrangig gegenüber anderen Streitsachen behandelt wird, oder wenn die Sorge vor einer Schwemme von unangemessenen Verzögerungsrügen geäußert wird, so liegt es an den Gerichten selbst, dies auszuräumen. Ich bin zuversichtlich, dass der Rechtsstaat auch an dieser Stelle in der Lage ist, Rechtsverletzungen präventiv zu verhindern oder eben angemessen zu entschädigen.

Um jedoch zum Kontext, in dem dieses Gesetz steht, zurückzukehren: Gerade vor dem Hintergrund einer künftigen umfassenden Reform des Staatshaftungsrechts ist es aus meiner Sicht richtig, die Erfahrungen mit einem neuen Rechtsmittel detailliert zu erfassen und in allgemeine staatshaftungsrechtliche Beratungen einfließen zu lassen. Nicht umsonst haben wir uns im Koalitionsvertrag darauf verständigt, das Staatshaftungsrecht zu kodifizieren und einheitlich auszugestalten. Angesichts eines solch umfassenden Projekts, für das es in den vergangenen Jahrzehnten schon mehrere gescheiterte Anläufe für ein Staatshaftungsgesetz gab, ist es wichtig, auch einzelne Rechtsmittel wie das gegen Verfahrens-überlängen so auszuformen, dass sie ihrerseits der bisherigen Systematik entsprechen. Mit dem nun gestalteten Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren behalten wir die bisherige historisch entwickelte staatshaftungsrechtliche Systematik bei.

Das deutsche Staatshaftungsrecht ist mit seiner Vielzahl von Normen und Anspruchsgrundlagen bisher nicht transparent geregelt. Wenn es uns gelingt, die Regelungen in einem einheitlichen Gesetz zusammenzuführen, könnten wir eine nun mehrere Jahrzehnte diskutierte offene Wunde der Rechtspolitik schließen. Dabei geht es gar nicht so sehr um Veränderungen der Haftungsmaßstäbe und die Ausweitung des Entschädigungsumfangs, sondern um eine Systematisierung der Anspruchsgrundlagen. Ich bin zuversichtlich, dass wir nach der Schließung von wichtigen Baustellen wie dem Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren in absehbarer Zeit auch ein transparent und schlüssig gestaltetes Staatshaftungsrecht auf den Weg bringen werden.

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